Blinde Einstellungen sind ein Trend auf dem Jobmarkt, der sich bereits seit einigen Jahren hält. Es hat allerdings nicht nur Vorteile, wenn man im Bewerbungsprozess möglichst wenig Persönliches über die Kandidaten weiß. Zu blind kann genauso gefährlich sein wie zu voreingenommen. Wie man im Recruiting den Balance-Akt schafft.
Stellen Sie sich vor, Sie haben kürzlich in einem renommierten Restaurant ein sehr gutes Abendessen genossen. Sie haben sich höchstwahrscheinlich währenddessen nicht die Frage gestellt, wie der Koch aussieht oder welche Kleidung er trägt. Ihr Fokus lag vielmehr auf dem Geschmack und der ansprechenden Präsentation der Gerichte. Genau wie bei diesem Beispiel könnten auch Unternehmen bei der Personalauswahl das äußere Erscheinungsbild ausklammern und sich stattdessen auf die Fähigkeiten und Qualifikationen der Bewerber:innen konzentrieren. Schon 2017 auf der Kölner Jobmesse gab es eine Blackbox für diese „blind job interviews“. Aldi Süd war hier einer der Vorreiter. Und im vergangenen Jahr haben die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young dieses Konzept für ihre offenen Stellen in Österreich verfolgt.
Psychologie austricksen
Die Idee hinter diesem blind hiring ist erst einmal so simpel wie gut: Die Recruiter sind unvoreingenommen. Denn ob wir wollen oder nicht: Unbewusste werden wir von psychologischen Phänomenen wie dem Halo-Effekt oder dem Ähnlichkeitsprinzip beeinflusst. Hinter dem Halo-Effekt verbergen sich klassische Vorurteile. Eine Person mit Brille ist schlau, die Markenklamotten suggerieren, dass jemand erfolgreich ist, schlanke Menschen sind aktiv, mehr Gewicht bedeutet faul. Und das Ähnlichkeitsprinzip besagt, dass wir uns in der Gesellschaft Gleichgesinnter einfach wohler fühlen – ein Grund, warum Thomas gerne den Thomas einstellt.
Werden diese unterbewussten Bias ausgeschaltet, steigt automatisch die Vielfalt in der Belegschaft, so die Theorie. Gleichzeitig sinkt die Gefahr, von Bewerber:innen aufs Glatteis geführt zu werden. Denn mit gezielter Vorbereitung kann jeder im Vorstellungsgespräch sympathischer wirken – etwa, indem man Blickkontakt sucht, sich in Richtung des Gesprächspartners lehnt, ein leichtes Lächeln auf den Lippen zeigt, aktiv zuhört und nachfragt.
Führt blind hiring zu mehr Diversität?
Blindes Rekrutieren setzt übrigens nicht zwangsläufig absolute Dunkelheit voraus. Unternehmen können das Konzept auch in abgeschwächter Form verfolgen – etwa indem in den Bewerbungsunterlagen Alter, Geschlecht und Herkunft unbekannt bleiben, was im angelsächsischen Raum ohnehin Standard ist. Hier ist die Studienlage tatsächlich sehr interessant. Beispielsweise fanden schwedische Forscher in einer 2012 veröffentlichten Studie heraus, dass mehr Frauen und ethnische Minderheiten für Vorstellungsgespräche ausgewählt wurden, wenn ihre Bewerbungen anonymisiert waren. Zu ähnlichen Ergebnisse kam 2011 eine holländische Studie für Bewerber:innen nicht-westlicher Herkunft.
Allerdings sind dieser Ergebnisse differenziert zu betrachten, wie eine große, ebenfalls 2012 von deutschen Forschern veröffentlichte Studie zeigt. Demnach erhöht blind hiring nur dann die Vielfalt im Unternehmen, wenn es vorher schon ein Diskriminierungsproblem mit bestimmten Minderheiten gab. Bei Arbeitgebern, die im Rahmen eines traditionellen Verfahrens eher Bewerber:innen aus Minderheitengruppen einstellten, wurde diese Tendenz nämlich durch die Anwendung einer Blind-Hiring-Strategie aufgehoben, was zu schlechteren Auswahlquoten bei Bewerber:innen aus Minderheitengruppen führte.
Wie sieht meine Belegschaft idealerweise aus?
Die wesentliche Erkenntnis aus dieser Studie für das moderne Recruiting – sehr passend zum Keyword blind: Unternehmen müssen sich zuerst die Frage beantworten, wie die eigene Belegschaft idealerweise aussehen sollte. Denn wer hier zu sehr „nach Optik“ geht und Vielfalt unabhängig von den Skillsets der jeweiligen Bewerber:in in den Vordergrund stellt, läuft Gefahr, zwar eine „bunte“ Belegschaft zu haben, jedoch nicht bei den Fähigkeiten, Kenntnissen und Erfahrungen.
Das ist allerdings kein Argument gegen blindes Einstellen – eher im Gegenteil. Denn ein Unternehmen kann es sich heute weder leisten, dass beim Recruiting aufgrund psychologischer Phänomene der Thomas nur den Thomas einstellt und die Gaby nur die Gaby, noch zugunsten der Vielfalt passende Fähigkeiten außenvor zu lassen, nur weil irgendeine Quote nicht erfüllt ist.
Dagmar-Elena Markworth, Partnerin bei Odgers Berndtson, merkt an, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt.
Die leidige Diskussion um Quoten
betont Tobias Kühr, Managing Partner bei Berndtson HR Consulting.
Menschen möchten weder für Geschlecht, Hautfarbe oder Herkunft diskriminiert noch ausschließlich aufgrund dieser Kriterien eingestellt werden. Auch hier ist die Welt eben nicht nur schwarz oder weiß.
Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein und dann die eigenen Prioritäten richtig zu setzen. Recruiting darf in einem ersten Schritt durchaus blind sein, respektive sich ausschließlich auf die inhaltlichen Aspekte fokussieren, die für die jeweilige Stelle wichtig sind. Gibt es dann mehrere Bewerbungen, die die Kriterien erfüllen, dürfen Quoten und/oder die Sympathie im persönlichen Gespräch entscheiden. Diesen Ansatz nennt man jenseits des Atlantiks übrigens „blind-then-see“. Verschiedene Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass ein derartiger Ansatz die Voreingenommenheit zugunsten von Mitgliedern benachteiligter Gruppen verringern kann, während die Vorteile einer blinden Erstbeurteilung der Qualifikationen erhalten bleiben.
Es gibt übrigens Unternehmen, die treiben das blind recruiting tatsächlich noch auf die Spitze: Die Unternehmensberatung CFC Big Ideas lädt Bewerber:innen nach einem anonymisierten Prozess zu einem Online-Interview ein, bei dem sie ihre Antworten auf vorher definierte Fragen aufzeichnen. Die Recruiter sehen die Bewerber:innen dann als gesichtslosen Avatar mit Roboterstimme. Das mag Vorteile haben, da auch für den regionalen Akzent der Bewerber:innen oftmals Sympathiepunkte vergeben werden. Aber ob dieses blind-recruiting-at-its-best wirklich zum ultimativen Erfolg verhilft, bleibt fraglich. Im Restaurant steht eins zweifellos fest: Der wahre Maßstab ist der Geschmack. Ob der Koch tätowiert ist oder nicht, wird dabei zur unwichtigen Randnotiz
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